- Mittelsteinzeit: Hirschjäger und Hechtfischer - Die Maglemosekultur
- Mittelsteinzeit: Hirschjäger und Hechtfischer - Die MaglemosekulturAls der dänische Archäologe und Botaniker Georg Sarauw im Jahre 1900 im Maglemose, dem »Großen Moor« im Westen der Insel Seeland, einen neu entdeckten steinzeitlichen Fundplatz ausgrub, erschloss er damit zugleich eine neue Periode der nordeuropäischen Kulturgeschichte. Zuvor war in Dänemark nur eine durch Funde aus großen Muschelabfallhaufen belegte Jäger-Sammler-Fischer-Kultur bekannt: die nach heutigem Wissen in das 4. Jahrtausend v. Chr. zu datierende Erteböllekultur. Sarauw maß seinen Funden ein wesentlich höheres Alter zu. Die weitere Forschung hat bestätigt, dass sich schon in der älteren Nacheiszeit, fast 4000 Jahre vor der Erteböllekultur, in Südskandinavien Jäger-Sammler-Fischer aufhielten; ihre Lebensform wird nach der ersten Fundstätte als Maglemosekultur bezeichnet. Diese war in den Flachlandräumen im Umkreis von Ost- und Nordsee verbreitet, und zwar in Landschaften mit flachwelligem Relief, vielen Seen und Fließgewässern sowie zahlreichen Niederungsmooren, die aber in der älteren Nacheiszeit noch im Entstehen begriffen waren. Die geographische Beschaffenheit Nordeuropas war zur Zeit der Maglemosekultur noch anders als heute, denn das in der letzten Eiszeit um circa 100 m abgesenkte Weltmeer war noch nicht wieder aufgefüllt. Die südliche Nordsee und die westliche Ostsee waren Festland; Dänemark, Südschweden und England waren über breite Landbrücken mit Kontinentaleuropa verbunden. Zur Zeit der Maglemosekultur - von etwa 7800 bis etwa 6000 v. Chr. - waren die späteiszeitlichen Tundren der Flachländer längst wieder bewaldet. Zunächst herrschten Kiefer und Birke vor, später breiteten sich auch Hasel, Eiche, Ulme und Linde aus. Alle Waldtiere unserer Klimazone einschließlich Elch, Auerochs und Bär hatten Einzug gehalten. Die fischreichen Gewässer und die Moorniederungen waren der Lebensraum von zahlreichen Wasservögeln, von Biber und Fischotter.In den Mooren haben sich mittelsteinzeitliche Kulturgüter aus organischen Stoffen - Knochen, Geweihmaterial, Holz, Rinde und Bast - oft gut erhalten. Solche Gegenstände sind in Südschweden, Norddeutschland und Ostengland, besonders zahlreich aber in Dänemark ausgegraben worden. Zu den Jagdwaffen und Geräten aus Knochen und Geweihmaterial gehörten Speer- und Pfeilspitzen, Angelhaken, Ahlen, durchlochte Hacken und Schlaggeräte, Fassungen und zugehörige Einsatzstücke, Meißel, Fellkratzer und andere Werkzeuge. Holz war allgegenwärtig und wurde universell genutzt. An Holzgegenständen sind Bögen und Pfeile, Speere, Fassungen und Schäfte für Beile und Hacken, Keulen, Wühlstöcke, muldenförmige Behälter, Wickelbrettchen für Schnur, Netzschwimmer, Einbaumboote und Paddel belegt. Birkenrinde nutzte man zum Falten von Behältern sowie zur Gewinnung von Pech als Klebemittel für die Befestigung der steinernen und knöchernen Pfeil- und Speerspitzen. Baumbast, vor allem das der Weide, diente der Herstellung von Schnur, Seilen, Trag- und Fischnetzen, letztere schon mit dem noch heute üblichen Fischerknoten verfertigt, und Bindestreifen.Diese Funde der Maglemosekultur sind derzeit die weltweit ältesten. Die Werkzeuge und Geräte aus Feuerstein, einem in den Eiszeitablagerungen überall verbreiteten Rohstoff, zeugen von einem hohen Stand der Fertigungstechnik. Neben den Mikrolithen als Pfeil- und Speerbewehrungen sind durch Schlag geformte Beilklingen typisch, die in geschäftete Holz- oder Geweihfassungen eingesetzt waren. Sie dienten dem Holzeinschlag und der Holzbearbeitung, zudem sicher auch als Schlagwaffen. Felsgestein wurde erstmalig zu Beilen, durchlochten Hacken und Keulen verarbeitet, wobei als neue Techniken Schleifen und Bohren angewendet wurden.Die Vielzahl der Gebrauchsgegenstände, die breite Nutzung der naturgegebenen Rohstoffe und die technischen Fertigkeiten belegen das hohe »materielle« Kulturniveau der Maglemoseleute. Alle früheren Epochen des Jägertums wurden damit übertroffen. In merkwürdigem Gegensatz dazu - auch im Vergleich zu den Eiszeitjägern - stehen die Zeugnisse der »geistigen« Kultur. Künstlerische Betätigung ist fast ausschließlich durch Ritzornamentik auf Gebrauchsgegenständen aus Knochen und Geweih - Hacken, Fassungen, Dolchen - sowie auf bei kultischen Handlungen verwendeten Zeremonialobjekten - gelochten Hirschgeweihstäben, Schwirrblättern - belegt. Eingeritzte Linien, Linien mit senkrecht oder schräg dazu angesetzten Kerben, Zickzackmuster, Leitermotive, Winkel, Rhomben, Netzmotive, Kerbschnitte, Reihen paralleler Kurzstriche und Grübchen bilden allein oder in Kombination mehrerer Elemente geometrisch erscheinende Muster. Diese hatten wohl immer einen auf Mythisch-Religiöses oder das Sozialleben bezogenen Sinn- oder Informationsgehalt, der sich jedoch heute nicht mehr entschlüsseln lässt. Sehr selten sind stilisierte menschen- und tiergestaltige Ritzungen. Plastische Kunst beschränkt sich auf wenige, bisher nur in Dänemark gefundene Tierfiguren aus Bernstein. Malereien und Gravierungen, wie sie die Eiszeitkünstler so eindrucksvoll an Höhlenwänden hinterlassen haben, fehlen völlig. Daraus ist verschiedentlich auf ein geringeres künstlerisches Vermögen der nacheiszeitlichen Jäger, ja überhaupt auf einen kulturellen Niedergang geschlossen worden. Aber der Schein trügt wohl: Auch wenn Höhlen und Felswände im Gebiet der Maglemosekultur fehlten, so kann es doch - nicht mehr erhaltene - Malereien auf Holz und Rinde gegeben haben, wie sie von den Ureinwohnern Australiens - ebenfalls Jägern - bekannt sind. Sinn für Ästhetik und die Fähigkeit zur künstlerischen Umsetzung von Vorstellungen haben die Maglemosejäger sicher besessen. Von dem wenigen, was von ihrer Kunst überkommen ist, kann nicht auf den tatsächlichen Umfang des einst Geschaffenen geschlossen werden.An Körperschmuck sind gelochte Tierzähne und Knochenanhänger nachweisbar, teils als Ketten getragen, teils auf die Kleidung genäht. Mehrfach wurden Hirschschädelmasken gefunden, die wohl bei besonderen Gelegenheiten mitsamt dem Geweih oder Geweihstümpfen auf dem Kopf getragen wurden, vielleicht von »Medizinmännern« bei der Beschwörung von Geistern oder des Jagdglücks, möglicherweise auch von Jägern zur Tarnung.Gräber sind bislang nicht bezeugt. Einzelne auf Wohnplätzen gefundene Menschenknochen lassen aber vermuten, dass die Verstorbenen wie bei den neuzeitlichen Jägervölkern auch über dem Erdboden - in Totenhütten oder auf Bäumen - »bestattet« worden sind. Die Wohn- und Lagerplätze wurden an Gewässern, aber auch auf sommerlich trockenem Mooruntergrund angelegt. In Dänemark und Schleswig-Holstein sind Rindenböden von Behausungen nachgewiesen, die selbst wohl aus Holz, Reisig und Schilf errichtet waren. Zur Nutzung aller Ressourcen eines Territoriums wurde der Standort jährlich mehrfach gewechselt, auch gab es Außenlagerplätze zum Jagen, Sammeln oder Fischen. Belegt sind Winter- und Frühjahrsplätze zum Jagen sowie Herbstplätze zum Sammeln von Haselnüssen. Dabei wurden in einem jährlichen Zyklus immer wieder dieselben Plätze aufgesucht, wohl sechs bis acht im Jahr, wie dies von neuzeitlichen Jägervölkern in Kanada bekannt ist.Die Jagd war der wichtigste Wirtschaftszweig, und im Jahresdurchschnitt steuerte sie sicher mehr als die Hälfte zur Ernährung bei. Dabei wurde mit Knochen und Geweihen zugleich unentbehrlicher Rohstoff gewonnen. Reh, Hirsch und Wildschwein, aber auch Biber wurden am häufigsten erbeutet. Ertragreich war auch das Sammeln. An den Grabungsplätzen ist eine ganze Reihe essbarer Pflanzen botanisch nachgewiesen. Auf Vorratshaltung deuten Funde gerösteter Haselnüsse. Gesammelt wurden ferner Vogeleier, Wildbienenhonig und Kleingetier wie Sumpfschildkröten, Igel und kohlehydratreiche Insektenlarven. Dass der Fischfang in der Mittelsteinzeit zu einer tragenden Quelle des Nahrungserwerbs wurde, zeigt sich daran, dass man Angelhaken und Fischnetz als spezielle Hilfsmittel erfand und - erstmalig belegbar - einsetzte.Die Maglemosekultur lässt wie kaum eine andere mittelsteinzeitliche Lebensform das Kultur- und Lebensniveau dieser Zeit erschließen. Die wirtschaftlich-kulturellen Übereinstimmungen im Gesamtraum dieser Kultur dürften darauf zurückgehen, dass die nacheiszeitlichen »Besetzer« der nördlichen Flachländer über gemeinsame Ursprünge verfügten, darüber hinaus aber auch auf Kontakte und wechselseitigen kulturellen Austausch. Im Ganzen ist die Maglemosekultur das weltweit bisher aufschlussreichste archäologische Zeugnis des Entwicklungsstandes der nacheiszeitlichen Jäger-Sammler-Fischer: Sie erreichten die höchste Effektivität in der bloßen Aneignung des Naturgegebenen. Dies war zugleich die Vorbedingung für den Übergang zu Bodenbau und Viehzucht in der Jungsteinzeit, auch wenn dieser Schritt - aufgrund fehlender natürlicher Voraussetzungen - in Nordeuropa erst später als in anderen Weltregionen erfolgte.Dr. Bernhard GramschLouboutin, Catherine: Steinzeitmenschen. Vom Nomaden zum Bauern. Ravensburg 1992.
Universal-Lexikon. 2012.